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In modernen multikulturellen Gesellschaften wird bei der Lösung von Konflikten wie Familienstreitigkeiten, Asylfällen sowie Bankgeschäften, Rechtsstreitigkeiten und strafrechtlichen Fragen häufig auf kulturelle Kompetenz zurückgegriffen. Das EU-Migrations- und Asylpaket beispielsweise verlangt von den Gerichten, dass sie praktisches Wissen über das Herkunftsland einer antragstellenden Person haben, wenn sie den Fall beurteilen.
Gegenwärtig wird kulturelle Kompetenz von Sachverständigen zur Verfügung gestellt, d. h. von Fachleuten, die ein tiefes Verständnis der Rechtsprechung und des kulturellen Hintergrunds der Beteiligten haben. „Die Rolle der kulturellen Kompetenz besteht nicht in der kulturellen Verteidigung, sondern darin, das Gericht über den sozialen und rechtlichen Hintergrund zu informieren, um alle Parteien in dem Fall zu unterstützen“, erklärt Projektkoordinatorin Livia Holden, Forschungsdirektorin am CNRS und an der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne. „Wenn wir uns um eine inklusive Justiz bemühen, ist es in unserem Interesse, die Sichtweisen aller Menschen in der Gesellschaft zu hören.“
Zugang zu Kompetenz
Die Einholung von kultureller Kompetenz ist jedoch oft ein schwieriges und kostspieliges Unterfangen, das Personen mit geringem Einkommen erheblich benachteiligen kann und die Gerichtsverfahren zusätzlich belastet und verteuert. Ziel des vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Projekts CULTEXP ist es, den Zugang zu kultureller Kompetenz durch eine digitale Sammlung und KI-Instrumente zu verbessern. „Wir bieten den Zugang zu einer Datenbank mit juristischen Präzedenzfällen, die automatische Erstellung von Sachverständigengutachten sowie die Überprüfung dieser Gutachten durch menschliche Fachleute und die Schulung von Sachverständigen“, sagt Holden.
Holden leitete zuvor das Projekt EURO-EXPERT, in dessen Rahmen Interviews mit Angehörigen der Rechtsberufe in 16 Ländern durchgeführt und etwa 4 000 Beispiele für Rechtsprechung und 1 000 Sachverständigengutachten aus der EU und den nationalen Rechtsordnungen zusammengestellt wurden Außerdem wurde eine Zusammenarbeit mit Ländern in Asien aufgebaut. CULTEXP wurde ins Leben gerufen, um diese Datenbank in ein kommerziell nutzbares Instrument zu verwandeln.
CULTEXP ist die erste mehrsprachige und länderübergreifende Datenbank für kulturelle Kompetenz. Nutzende können nach Fallberichten in jeder beliebigen Sprache suchen, und die Ergebnisse werden auf der Plattform übersetzt. CULTEXP zeigt länderspezifische Gesetzeszitate und, falls möglich, den Europäischen Urteilsidentifikator an. Es ist für Nutzende kostenlos, ohne Schulung zugänglich und kostengünstig im Betrieb.
Sachverständigengutachten können innerhalb weniger Minuten automatisch aus der Datenbank erstellt werden, wobei relevante Urteile und unterstützende Informationen aus verschiedenen Ländern und Sprachen zusammengestellt werden. Zuvor konnte dieser Prozess in der Rechtsforschung drei bis sechs Monate dauern.
Automatische Anonymisierung
Um den Aufbau der Datenbank zu unterstützen, entwickelten Holden und ihr Team Elydor, das weltweit erste mehrsprachige Redaktionssystem. Das KI-gestützte Archivierungssystem anonymisiert Fallberichte, damit sie DSGVO-konform in die CULTEXP-Datenbank aufgenommen werden können. Das System scannt die Namen, Daten und anderen erkennbaren Informationen der Dokumente und ersetzt sie automatisch. „Elydor kann einen Bericht in drei Minuten anonymisieren, eine Aufgabe, für die ein Mensch einen ganzen Tag brauchen würde“, fügt Holden hinzu.
Durch die Verkürzung der Zeit, die für die Erstellung von Gutachten benötigt wird, bietet das Projekt nicht nur einen besseren Zugang zur Justiz für die Betroffenen, sondern ebenso einen erheblichen wirtschaftlichen Nutzen, da die Dauer der Gerichtsverfahren verkürzt wird.
Im Jahr 2022 wurde Holden die Ehrenmitgliedschaft der Canadian Anthropology Association (CASCA) verliehen, um ihre Arbeit zum Thema kulturelle Kompetenz und das Potenzial der EURO-EXPERT- und CULTEXP-Netzwerke zur Unterstützung kanadischer Fachleute für Anthropologie, die Dienstleistungen für die Gerichte erbringen, zu würdigen.
Holden und ihr Team bewerben sich nun um einen Übergangszuschuss des Europäischen Innovationsrates, um das Marktpotenzial der Datenbank und ihrer Dienste zu prüfen.